Erfahrungsbericht Katja Lewina

Katja Lewina Orgasmic Woman Coaching

Die Autorin und Journalistin Katja Lewina hat an dem Orgasmic Woman Coaching mit der Online-Gruppe teilgenommen und teilt hier ihre Erfahrungen:

Unruhig tigere ich durch die Wohnung. Schon 22 Uhr, und ich habe es mir heute noch gar nicht selbst gemacht! Da muss ich gleich noch unbedingt ran. Nicht, dass ich Lust hätte. Aber die Selbstliebe-Challenge ist beschlossene Sache. Geschwänzt wird nicht, dafür bin ich viel zu rechtschaffen. Außerdem bin ich neugierig: Was verändert sich, wenn ich meiner Vulva täglich ungeteilte Aufmerksamkeit widme? Eigentlich bin ich in Sachen Selbstbefriedigung ja Profi. Ich weiß genau, was ich tun muss, um meinem Körper die schillerndsten Orgasmen zu entlocken, und dank meines abschließbaren Büros in einem Kreativhaus bin ich dafür nicht mal auf die Intimität meines Betts angewiesen. Mal mache ich es mehrmals am Tag, mal wochenlang gar nicht – meine Lust lässt sich nichts vorschreiben. Auch im Zusammenspiel mit anderen lässt sie sich nicht lumpen. Aber die Idee, mich sexuell weiterzuentwickeln, ist trotzdem da. Gerade jetzt, wo ich mich selbst kaum noch spüre. Seit Corona die Kontrolle über unseren Alltag übernommen hat, fühle ich mich mehr wie eine Maschine als wie ein sinnliches Wesen. Arbeiten trotz drei unbetreuter Kinder, nicht verzweifeln trotz ausbleibender Honorare, fröhlich sein, obwohl ich heulen möchte. “Gerade in solchen Situationen ist es wichtig, sich Zeit für sich zu nehmen”, erklärt Mara, die zusammen mit Vivien, ihrer Partnerin in Crime, eine Praxis namens “Orgasmic Woman” betreibt – und ja, der Name ist hier Programm. Die nächsten 30 Tage werde ich mit fünf anderen Frauen an einem Online-Gruppencoaching teilnehmen. Täglich mindestens 15 Minuten Quality Time mit mir selbst, um meine Sexualität weiterzuentwickeln und mein orgasmisches Erleben zu steigern.

Zunächst ist da aber nur eins: Überforderung. Schon bei unserem ersten Zoom-Meeting geht es los. “Atmet durch eure Vulvina ein und wieder aus”, leitet Mara uns bei der anfänglichen Meditation an. Hallo? Also ich atme ja durch meine Nase. Das Verhältnis zu meinem Körper ist genauso pragmatisch wie zum Leben allgemein, weder glaube ich an die Heilkraft von Edelsteinen noch an die Macht von Tarotkarten. Ich probiere es dennoch. Stelle mir vor, wie mein Atem zwischen meinen Beinen emporgleitet und dann wieder zurück. Nach ein paar Atemzügen dann der Schreck: Es tut weh! In meiner sonst absolut gesunden und beschwerdefreien Vagina schmerzt irgendwas. “Unser Körper drückt oft etwas aus, was unser Kopf noch nicht verstanden hat. Versuch es nicht zu analysieren, sondern genauer zu spüren und dahin zu atmen”, schreibt Mara später in den Gruppenchat, und genau das werde ich ab jetzt mehrmals täglich tun. Denn der Schmerz meldet sich immer wieder, als ob meine Aufmerksamkeit etwas hochgeholt hätte, das im Alltag sonst keinen Raum findet.

Die Empfehlung lautet: einen festen Zeitpunkt für die tägliche Selbstliebe zu finden. Sofort bin ich neidisch auf all die jungen, kinderlosen Frauen aus dem Zoom-Meeting, die bestimmt keine Probleme damit haben, so etwas in ihren Alltag zu integrieren. Aber wie zum Henker soll das bei mir gehen mit Job und Kindern? “Vielleicht morgens den Wecker eine Viertelstunde früher stellen”, schlägt Vivien vor, und ich lache mich kaputt, denn mein eh schon kaum vorhandener Schlaf ist mir heilig. Also krieche ich, als die Kinder am ersten Abend endlich schlafen, in die Badewanne. Mit dabei: mein neuer Pulsator, ein Toy, das die Stoßbewegungen eines Penis nachahmt; die meisten von uns teilnehmenden Frauen haben ihn für die Sensibilisierung unserer vaginalen Nervenenden empfohlen bekommen. Ich bin neugierig, was das Ding wohl kann, spüre aber auch einen Widerstand gegen dieses schwarze große Etwas, dessen Stöße meinen ganzen Körper vibrieren lassen, als ich es in der Hand halte. Große Lust habe ich gerade auch nicht, trotzdem schiebe ich mir den Pulsator rein und lasse ihn pulsieren. Dabei streichele ich mich selbst und komme kolossal gut, gleich mehrmals hintereinander.

Ein unangenehmes Gefühl bleibt trotzdem zurück. Habe ich mich da etwa gerade selbst zum Sex gezwungen? Eigentlich wollte ich ja gar nicht. Erst recht nicht mit dem Pulsator, nach dem sich meine Vagina merkwürdig taub anfühlt. Beim Nachspüren merke ich: Dass ich meine eigenen Grenzen beim Sex, aber auch sonst im Leben nicht wahre und oft nicht einmal wahrnehme, kommt häufiger vor, als ich dachte. Was will ich? Diese Frage werde ich mir ab jetzt bei der Selbstliebe stellen, und die Antwort meines Körpers lautet: erstaunlich wenig. Für den Rest der Challenge heißt es für mich meist nur Hand auflegen, atmen, Becken schaukeln. Im Gegensatz zu sonst, wenn ich mich selbst berühre, ist da weder Erregung noch Wollen. Auch die vom Coachingprogramm vorgesehene Action reizt mich nicht. Wie jede Teilnehmerin habe ich nach dem Ausfüllen eines Fragebogens zu meinen sexuellen Gewohnheiten und Vorlieben ein individuelles Programm zugeschickt bekommen. Jede der vier Wochen ist einem Sinn zugeordnet, als Erstes ist der Sehsinn dran. Ich könnte also Vulvaformen in der Natur suchen, mir fremde Muschis angucken oder meine eigene im Spiegel betrachten. Zum Glück erinnern uns Mara und Vivien daran, das alles nur als Anregung zu verstehen und lediglich das zu machen, was sich stimmig anfühlt. Ich lasse das meiste davon zwar sausen, freue mich aber über die Fotos von Baumformationen und Wurzeln, die die anderen in den Chat schicken.

Dieser Chat ist überhaupt eine fantastische Ergänzung: Hier teilen wir alles, von genitalen Aha-Momenten über Enttäuschungen bis hin zu Hausmitteln gegen Vaginalpilz. Hin und wieder schalten sich auch Mara und Vivien ein und geben ihre Impulse dazu. Wie zum Beispiel als ich über die Ferientage mit den Kindern bei meiner Mutter lande. Drei Tage lang keine Sekunde für mich allein, nicht mal beim Schlafen. Wem ist schon nach Sexy Time, wenn die Mutter auf der anderen Seite der Wand liegt und der kleine Sohn neben einem im Bett schnarcht? Als wir wieder abreisen, habe ich eine aufkeimende Pilzinfektion im Gepäck – wie so oft, wenn ich mit meiner Mutter zusammen bin. “Sexualität und Herkunftsfamilie, das ist ein spannendes Thema”, schreibt Mara später, die bei Familienbesuchen ähnlich körperlich reagiert wie ich. “Ich habe schon so viel dazu gearbeitet, aber es bleibt eine Herausforderung.”

Was außerdem herausfordernd ist: dass meine Vagina auch außerhalb unserer täglichen Verabredung immer wieder wehtut oder zieht und meine Aufmerksamkeit will. Ich gebe ihr alles, was sie braucht. Atme in sie hinein, mache Katzenbuckel oder kreise mit dem Becken. Einmal ziehe ich sogar ein bestimmtes Kleid an, weil ich das Gefühl habe, sie könnte das mögen. Keine Spur mehr von meinem einstigen Pragmatismus in Sachen Körper. Meiner Pussy Wunsch ist mir Befehl. Und das zahlt sich Woche um Woche mehr aus. Allerdings ganz anders, als ich erwartet hätte.

“Wie ist euer Fazit?”, fragt Vivien in unserem letzten Call, und ich bin plötzlich traurig, dass die vier Wochen schon rum sind – auch wenn es mir zunehmend schwergefallen war, meine Selbstliebe-Sessions in den Alltag zu integrieren. Die Begleitung durch Mara und Vivien wird mir mindestens so fehlen wie der Austausch mit den anderen Frauen. Immerhin haben wir einen Monat lang unsere intimsten Gefühle miteinander geteilt, obwohl wir uns vorher überhaupt nicht kannten. Nein, ich habe keine besseren Orgasmen (okay, das wäre eh ambitioniert gewesen). Ich habe sogar weniger Lust auf Sex als vorher (was auch ein bisschen beruhigend ist, schließlich neige ich zum Über-die-Stränge-Schlagen). Dafür spüre ich aber mit einer ungeahnten Wucht, was ich will und was nicht, und zwar nicht nur, wenn es zur Sache geht. Mein Gefühl für mich selbst ist zurück, und wie das eben so ist bei fulminanten Comebacks: „Jetzt noch härter!” Mit wem will ich Zeit verbringen? Was will ich zum Frühstück? Und will ich wirklich schon wieder was bei Insta posten? Die Antwort ist sofort da und hat oft wenig mit den Automatismen zu tun, in denen ich sonst reagiere.

Gleichzeitig fallt es mir leichter, empathisch mit anderen Menschen zu sein und ihre Gefühle nicht auf mich zu beziehen. Mein Mann grummelt rum? Soll er ruhig machen, hat nichts mit mir zu tun. Meine Freundin wird pampig? Ich kann sie trotzdem in den Arm nehmen. Meine eigenen Grenzen wahrzunehmen macht mich tatsächlich zu einem besseren Menschen.

Viele alte Themen sind in diesen Wochen hochgekommen. Von der Vergewaltigung mit 15 bis zur Angst vor dem Ruin ist alles dabei. Überraschenderweise bringt mich aber nichts davon an den emotionalen Abgrund. Stattdessen folgt Selbsterkenntnis auf Selbsterkenntnis im 24-Stunden-Takt. Und das offenbar nur, weil ich mir Zeit für meine Yoni nehme. Keine Chance für mich, diesen Prozess rational zu erklären. Ich weiß nur eins: Es ist der Wahnsinn. Und Nachmachen dringend angeraten.

Bild von Katja Lewina: Lucas Hasselmann